Oma
Ich packe mir meinen großen schwarzen Wanderrucksack auf den Rücken, nehme noch den Müllbeutel und trete aus meiner Wohnung. Meine braunen Lederschuhe sind schnell übergezogen, dann noch fix den Unrat in die Tone geschafft und ab zum Bus. Doch das erste Problem ist schon die Fahrkarte. Es mulmt eine graue Masse durch meinen Körper. Wie eine aus Nebel bestehende Schlange tanzt sie um mein Herz, macht mich müde, traurig, hoffnungslos.
›Ich schaffe es nicht. Nächste Woche werde ich nicht mehr sein. Und jetzt? Jetzt auch noch eine Fahrkarte kaufen!?‹, denke ich, während ich an diesem frühen Winterabend sehr langsam über die dunkle und schwach beleuchtete Straße laufe.
Ich überlege weiter: ›Erobere ich mir das Ticket am Automaten gleich um die Ecke? Aber da stehen bestimmt, wenn die Ampel rot ist, gleich daneben wieder die Autos und deren Insassen beäugen mich, wie ich einen dieser Busscheine erwerbe, wie ich dabei zittre und mühsam nach dem Kleingeld krame. Außerdem befindet sich der Automat hinter der Kreuzung, gegenüber der Haltestelle meines Busses. Den schaffe ich dann ganz sicher nicht mehr. Aber beim Busfahrer selbst? Das ist ebenso falsch und demotivierend für mich. Es werden ja schon einige drinsitzen, und jene fangen mit Sicherheit auch an, mich zu beobachten und abzuwerten.‹
Die Gedanken reißen nicht wirklich ab. Wo sie genau herkommen, weshalb sie immer und immer wieder in dieser beschämenden Art von mir Besitz ergreifen, vermag ich nicht zu sagen. Auch gab es keinen Moment in meinem Leben, auf den ich gebannt und mit einer Stecknadelspitze deuten könnte, um zu sagen: ›Hier war es, genau hier hat es begonnen, dass ich nicht mehr klar denken konnte.‹
Es gibt vieles, für das ich mich nicht rühme. Eine Erklärung scheint mir jedoch kaum möglich. Aber dieses Gefühl, sich immer rechtfertigen zu müssen, entpuppt sich als manifestierte Qual in mir.
Begreifen kann ich es nicht, aber ich habe es geschafft, mir am Automaten das Ticket zu kaufen. Nun warte ich auf die Bahn. Ich nehme einen anderen Weg als sonst. Meine Linie kommt, ich steige ein, setze mich, quetsche den Rucksack zwischen meine Beine und fahre einige Minuten. Dann buckle ich mir meine Sachen wieder auf und steige aus. Die Anzeigetafel für meinen Bus aufs Dorf sagt mir, dass der Bus gerade abgefahren ist. Knapp eine halbe Stunde im leichten Nieselregen liegt nun vor mir.
Ich nehme ein Buch aus der oberen Tasche meines Gepäcks und lese im schwachen Licht des Wartehäuschens. Immer wieder spüre ich ein mulmiges Würgen in mir. Es pocht in meinem Hals, die Muskeln im Nacken sind verspannt, mein Magen entwickelt ein abscheuliches Eigenleben.
Schmatzend von der nassen Straße fährt der Bus vor, ich steige ein, es geht aufs Dorf.
Angekommen.
Ich bin in meinem Elternhaus, schäme mich noch mehr.
Gibt es etwas Schlimmeres, etwas Abscheulicheres, als in seinem Elternhaus Angst zu empfinden? Oder zumindest ein starkes Unwohlsein, eine Beklemmung!?
Rein objektiv gibt es keinen Grund dafür. Es hat nichts mit der Erziehung zu tun, nichts damit, dass ich fahrlässig falsch behandelt wurde. Es herrschte viel ehrliches und liebevolles Bemühen vor. Dankbar bin ich, ich kann es nur nicht zeigen.
Ich schäme mich.
Spätestens seit meinem Aufenthalt in der Klinik umgibt mich dieses Gefühl. Während meiner stationären Klinikzeit besuchte ich meine Eltern an einem Wochenende. Alles wirkte fremd. Der Garten, die Türen, die Garage.
Jemand hatte mir die Erinnerungen eines Fremden eingepflanzt. Eines Fremden, der hier seine Kindheit verbracht hatte. Kleine Fetzen sah ich aufkommen, kurze Bilder und Sequenzen. Diese Erscheinungen in mir fühlten sich aber nicht wie die meinen an. Ich sah nicht die eigene Kindheit darin. Vielleicht hatte ich auch einfach in all der vergangenen Zeit noch kein eigenes Ich, kein Selbst, das sich hätte mit dem Erleben seiner Gegenwart identifizieren können.
Soweit ich mich besinne, war dies das letzte Mal, dass ich weinen konnte. Jetzt wünschte ich mir, dieser Druck, der sich in den letzten Tagen mal wieder zu steigern gewagt hat, könnte aus mir strömen, würde mich verlassen. Und wenn es salziges Wasser aus den Augen wäre, ja, selbst wenn es blutend aus mir käme – Hauptsache, die Last und das Unwohlsein würden weniger.
Einfachste Dinge erscheinen mir als unüberwindbare Anstrengung. Es widert mich an, die Wohnung hier wieder mit Holz zu feuern. Ich komme an und mir ist kalt. Ich scharre den Ofen, lege auf den Grund einen Anzünder und staple nahezu mathematisch perfekt die Holzscheite. Ein Streichholz reibt sich zu einer Flamme an der Schachtel und schon brennt es im Ofen.
Ich blicke hinein, verspüre eine ekelhafte Wut, einen Hass. Meine Gedärme werfen mir Scheinheiligkeiten und Lügen in den Geist. Ich gebe mich alldem hin und versinke in Passivität. Werde handlungsunfähig. Nicht das Maß der künstlerischen Melancholie ergreift mich, sondern das makabere Übermaß an Traurigkeit.
Meine Augen verfolgen die Flammen und Hitze speit mir entgegen. Dennoch. Mir ist kalt. Die Frage, ob ich nächste Woche noch existiere, nagt in meinem Hirn und zersetzt meine Stammzellen nacheinander.
Nur meine Oma schläft ruhig in ihrem Bett, den Schlüssel zu ihrer Wohnung hat sie längst abgezogen. Sie ahnt nichts von meinen Ängsten, von dem, was so unbegreiflich in mir die Macht übernommen hat. Ich sagte ihr nur, dass es nicht ganz einfach für mich ist, hier zu sein.
Oma freut sich. Sie ist dankbar, dass sie die Woche, in der niemand weiter im Haus ist, nicht allein sein muss. Dass vor allem nachts jemand über ihr wohnt und da ist.
Ich glaube, trotz meiner Erkrankung erlebte ich inmitten dieses inneren Gewitters einen kleinen Moment der Liebe. Als ich ankam, ging ich hinein, gab ihr Bescheid, dass ich nun da sei. Da saß sie, in ihrer blauen Decke, mit ihrem grauen Topfschnitt und hatte schon ihre Zähne herausgenommen. Natürlich war es vor Jahren, als ich sie zum ersten Mal so gesehen habe, ein wenig merkwürdig für mich. Doch sie störte sich nicht daran, mir so zu begegnen. So durfte ich ein Teilhaber ihrer Natürlichkeit sein.
Aber das macht es aus. Das ist der Bezug zu einem Menschen, mit dem ich momentan ohne Scheu, Ängstlichkeit oder Erwartungsdruck umgehen kann. Aber das war ein Moment von Glaubwürdigkeit, von Ruhe und Akzeptanz, auch wenn ich es bisher nur rekapitulierend genießen konnte und erst später eine Art Wärme verspüre.
Ich hoffe, dieser Moment bleibt mir in Erinnerung.