Die Brücke
Einige Stunden hatte es mich um die kleinen und verwitterten Häuser nahe der Prießnitz getrieben. Verloren in sehr tiefen und schweren Gedanken.
Es war Winter, der Schnee hielt sich zwar nur auf unberührtem Boden, aber es war dennoch bitterkalt. Meine Zwiebeltechnik hielt mich nur durch das permanente Laufen warm. Eine lange Unterhose, ein T-Shirt, ein dünner schwarzer Pullover, darüber noch ein etwas dickerer, dann eine Strickjacke mit Kapuze und darauf noch eine Fleecejacke ohne Ärmel. Alles wurde so weit wie möglich zugezogen, der Schal fest um den Hals gezurrt und unter kleinen Unannehmlichkeiten und Bewegungseinbußen die dicke Winterjacke noch über das alles gestreift.
Trotz meiner melancholischen Stimmung traf es mich wie ein plötzlicher und unerwarteter Schlag.
Ich stand einige Meter von der Brücke entfernt, neben mir rauschten die Autos vorbei, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung. Links des Fußweges hatte man eine kleine Aussparung geschaffen, eine Art kleinen Aussichtspunkt hinunter in den Abgrund und auf den Bachlauf.
Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Blickte stumm und ängstlich in Richtung der Brücke.
Sollte ich umdrehen? Schaffte ich es über diese Brücke? Oder war es hier und heute soweit?
Suizid.
Ein Wintertag mit strahlender Sonne, welche mir die innere Wahrnehmung verblendete, die Augen mir durch ihre Kraft und Stärke inmitten der kalten Luft zuzog. Warm spürte ich sie auf meiner Wange.
Vielmehr aber kroch die Panik in mir auf. Meine Beine wurden schwach und eine Stimme rief in mir: »Dreh um! Laufe einen anderen Weg! Oder … tu es!«
›Wie wäre es wohl?‹, fragte ich mich still.
Springen. Fallen. Ewiges Nichts.
Suizid an einem gelblich durchleuchteten Mittag.
Ich begann nervös zu werden und setzte langsam und bedacht einen Fuß vor den anderen, näherte mich Stück für Stück dem Geländer.
›Was erhoffst du dir, Geist, von Sprung und Fall, welche dich in die undefinierte Unendlichkeit geleiten würden?‹
An diesem Tag sprach mein Geist nicht klar zu mir. Er träumte vor sich hin. Spielte es durch, wie schnell wohl mein leichter Körper am Boden aufschlagen würde, wie die Menschen unten reagieren könnten, was die Familie erst sagen würde!?
»Aber ich will leben«, schrie meine unterdrückte Seele des Guten tief in mir. Ich sah sie sehr deutlich. Diese drahtige, entstellte Figur. Ihre Arme und Beine standen ihr in merkwürdigen Winkeln vom Körper, die Bewegungen zuckend. Der ganze Leib mit weißen Tüchern umwickelt. Selbst die Augen hatte man nicht ausgelassen. Nur noch ein schwarzes Loch zeigte ihren schreiend aufgerissenen Mund, der keine Zähne besaß. Hier und da trat schwarzes und dunkelrotes Blut zwischen den weißen Lacken hervor.
Meine Seele verkrampfte sich, denn ihre Befreiung erschien noch zu weit in der Zukunft. Ich war für diesen Freigeist noch nicht bereit. So verbannte ich sie aus meinem Bewusstsein tiefer in ihr Schattenreich.
Eine zweite Seele, die reine Seele des Todestriebes, sprang auf mich ein, setzte sich auf meinen Rücken und packte mit ihren dreckigen Krallen meine Augen. Die Beine schlang sie um meinen Körper und zog sie so fest, dass es mir schwerfiel, im stillen Rhythmus an Luft zu gelangen.
Dann schob sie ihr schauerliches und faulendes Gesicht in mein Blickfeld, stierte mich mit bösartig glänzenden Augen an und begann, fürchterlich zu lachen. Von Ohr zu Ohr reichte ihr grauenerregender und übergroßer Mund, die spitzen Zähne wirkten abgenutzt und zerstört, als ob dieses Wesen nur Stein und Geröll zu fressen bekäme.
Ich liebte sie, diese Seele; aber nur, weil ich sie schon immer kannte. Die Dame Melancholia war etwas harmloser und würde immer meine angebetete Traumfrau bleiben. Aber der Todestrieb und ich, wir kannten uns schon, seitdem ich selbst denken konnte, mich selbst mit Gefühlen und Emotionen identifizierte. Das abartige Verlangen dieser Gestalt wusste mir schon früh zu diktieren, was ich zu denken und zu fühlen hatte.
Langsam begannen meine Augen zu schmerzen und der Rücken verspannte sich, denn diese Seele war keine leichte. Ihr Gewicht hatte die Macht, dich in den Boden zu stemmen.
Nach und nach trieb sie mich an den Rand der Brücke, flößte mir ihr schwarzes Blut in meine Venen und ich schaute gebannt und gequält hinab.
›Wie tief wird es hier wohl sein? Zwanzig, dreißig Meter? Reicht das für mich?‹
Die Stille des Suizides. Die Sehnsucht nach Stille. Das Gebet der Ruhe.
»Freiheit!«, schrie mich das beklemmende Etwas auf meinem Rücken an. »Freiheit wollen wir haben! Freiheit werden wir uns nehmen! Süß ist der Wein der Selbstverachtung. Trächtig dein Hass auf die Welt! Nimm Abschied und freue dich auf die Stille im puren Schwarz!«
Aber da, da unten erblickten meine Augen etwas, das viel erhabener war als jeder egoistische Versuch, sich seine Ruhe auf Kosten des Leids anderer zu erzwingen.
Umso mehr ich mich konzentrierte und meine müden Augen das Bild da unten genossen, desto weniger kraftvoll wurde die verhärmte Seele auf mir.
Ich schaute hinab und sah auf dem zugefrorenen kleinen Bächlein einen kleinen Jungen. Er besaß kaum die Fähigkeit, seine kleinen Beinchen zu bewegen, was ihm nur noch schwerer gelang, da er sich in einem dicken blauen Ganzkörperanzug befand und es vielleicht sein erster bewusster Versuch war, auf Eis zu laufen. Seine Arme standen ihm sperrig vom Körper. Wenn er sich drehte, tippelte er unzählige kleine Schrittchen, bis etwas Neues oder sein wartender Vater seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann kam ebendieser auf seinen kleinen Sohn zu und hockte sich neben ihn. Der Junge freute sich, hörbar durch seine wortlosen Geräusche, fiel bei dem Versuch, zur Umarmung auf seinen Vater loszustürmen, hin, aber er weinte nicht los. Er rappelte sich auf, stand am Bein seines Vaters und klammert sich daran fest.
Jeder Ton, der mich erreichte, jede Bewegung der beiden strahlte unbegreiflichste Liebe aus. Eine Freude und Zufriedenheit, die meine eigenen Empfindungen zu überlasten und zu zersprengen wagten.
Stille machte sich in mir breit und ein Lächeln schob sich auf mein Gesicht. Langsam überschritt ich die Brücke und begab mich hinunter zum Bach.
Einige Zeit dachte ich daran, zu dem Vater zu gehen und ihm mitzuteilen, dass er und sein Sohn, ihre plötzliche und ganz unbeschwert wirkende Liebe zueinander, mir das Leben gerettet hatten. Aber ich fand den Mut nicht dazu. Hielt mich selbst für zu pathetisch, zu übertrieben und peinlich in dem, was mir da geschehen war.
An diesem Tag lief ich so weit dem Bach nach wie noch nie zuvor. Jedoch nahm ich nur sehr wenige Dinge wahr. Eine Gedankenspirale stürmte auf mich ein. Es zog mich von einer fantasierenden Reise gänzlich in das geistige Abseits.
– – –
Einige Dinge davon sind nach wie vor in meinem Kopf, warten auf ihre Umsetzung und Entfaltung in Wort und Bild.
Ich habe es nicht geschafft, mein Erlebnis direkt mit diesen Menschen zu teilen, aber dennoch möchte ich ihnen meinen vollsten Dank bekunden.
Manchmal ist es ein so trivial erscheinendes Sehen und Hören, das mich für Momente von meiner düsteren Seele befreit.
»Ich will leben! Frei und unbeschwert! Ich will leben!«, ruft die gute Seele aus der tiefsten Ebene nach wie vor aus mir heraus.
›Kämpfe‹, sage ich ihr. ›Kämpfe dafür!‹